(Von Prof. GERD KEMPERMANN )
Ob wir lernen oder jonglieren, das Hirn braucht Reserven. Gerd Kempermann, einer der bedeutendsten Stammzell- und Hirnforscher in Deutschland, erklärt einen der neuesten Funde der Hirnforschung: Wieso wir auch im Alter noch neue „graue Zellen“ bilden.
Gut fürs Gehirn: Bewegung
Intuitiv oder kulturell geprägt scheinen viele Leute noch der Sicht anzuhängen, dass es mit dem Gehirn buchstäblich von der Kindheit an nur bergab gehe und jedes Glas Bier zu viel oder jeder Kopfball weitere Nervenzellen eliminiere – bis buchstäblich nicht mehr genug Nervenzellen vorhanden sind und wir dement werden. Wahr ist, dass das Gehirn kaum regeneriert und deshalb viele neurologische und psychiatrische Erkrankungen chronisch und irreversibel verlaufen. Unwahr allerdings ist, dass dies schon die ganze Geschichte ist.
Denn lebenslang zeigt das Gehirn eine verblüffende Anpassungsfähigkeit, die man sogar sichtbar machen kann. Die Neurologen Bogdan Draganski und Arne May haben Medizinstudenten vor und nach ihrer ersten Prüfung, dem Physikum, im Kernspintomographen untersucht und gefunden, dass in einer Hirnregion namens Hippocampus, die für Lernen und Gedächtnis besonders wichtig ist, nach der Lernphase mehr graue Substanz, also mehr Hirnstruktur, zu finden war. Der Hippocampus ist eine zentrale Schaltstelle, er spielt auch in der räumlichen Orientierung ein tragende Rolle, er erlaubt die zeitliche Einordnung von Ereignissen, und er ist notwendig, Inhalte mit emotionalen Kontexten zu verknüpfen.
Gehirn-Jogging hilft gegen Demenz
Oft heißt es auch Bewegung, körperliche Aktivität allgemein, sei gut für unser Gehirn – wieso eigentlich? Dass sie es tatsächlich ist, dafür gibt es viele Hinweise, bis hin zu dem schlechten Gewissen, das jeder hat, der eben nicht genug in dieser Richtung tut. Aktivität gilt als eine Maßnahme, die eine gewisse Wirksamkeit gegen das Erkranken an einer Demenz hat. Leider greift das Prinzip nicht in jedem Fall: Der Effekt zeigt sich nur statistisch in der Bevölkerung. Aber er ist messbar, und er ist eben einer der ganz konkreten Lichtblicke, wenn es darum geht, etwas für die Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gehirns zu tun.
Das Gehirn kann sich nicht regenerieren – aber anpassen
Bei dem Versuch zu erklären, warum Aktivität gut für das Gehirn ist, sind wir auf die Stammzellen des erwachsenen Gehirns aufmerksam geworden. Von diesen adulten Stammzellen wissen wir erst seit fünfzehn Jahren, und die meisten ihrer Funktionen sind uns noch rätselhaft. Aber wir wissen schon, dass das, was wir als „aktivitätsabhängige Plastizität“ bezeichnen, also das Wechselspiel zwischen Struktur und Funktion des Gehirns, zu den Aufgaben dieser Stammzellen gehört. Ein Nervenzellen-Reservoir hinter den Ohren.
Im Hippocampus und in einem weiteren Areal stellen diese Stammzellen ein lebenslanges Reservoir für neue Nervenzellen bereit. Die Bildung neuer Neuronen – die Neurogenese – ist sicher die Ausnahme, wenn es um Hirnveränderungen bei Erwachsenen geht. Sie ist nicht die Regel. Trotzdem könnte sie gerade im Zusammenhang der Demenzen und der Entwicklung neuer Präventionsstrategien und Therapien von großer Bedeutung sein.
Jeder von uns besitzt zwei Hippocampi im Schläfenlappen, also quasi „hinter den Ohren“. Bei der Alzheimerdemenz ist der Hippocampus früh geschädigt. Die Patienten haben Merkfähigkeitsstörungen, viele können sich in bekannter Umgebung nicht mehr orientieren und die zeitliche Abfolge der Vergangenheit geht ihnen durcheinander.
Auf der anderen Seite entstehen just im Hippocampus neue Nervenzellen, vermutlich sogar bis ins hohe Alter. Aber ihre Zahl ist sehr gering. Und sie scheinen nichts mit der Regeneration beschädigter Areale zu tun zu haben. Warum also der Aufwand? Unsere Idee ist, dass im Hippocampus Hirnentwicklung lebenslang nicht aufhört und erfolgreiches Altern viel mit dem Erhalt dieser Entwicklungsfähigkeit zu tun hat.
An Engstellen feuern die Synapsen
Offenbar deckt der gesamte Rest des Gehirns seinen Bedarf an strukturellen Anpassungen auf der Ebene der Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen. Sie bilden durch Training zusätzliche Synapsen. Das ist auch im Hippocampus so, aber hier scheint es eine Besonderheit zu geben, die es notwendig macht, dass hier neue Nervenzellen gebildet werden. Die neuen Zellen allein können nicht die verblüffenden Unterschiede bei den Medizinstudenten erklären, dafür ist ihre Zahl zu gering. Aber es bleibt verblüffend, dass es genau in einer Hirnregion, die solche dramatischen strukturellen Anpassungsvorgänge zeigt, auch lebenslang neue Nervenzellen gibt.
Was die neuen Nervenzellen im Hippocampus im Einzelnen genau tun, wissen wir noch nicht, aber ihre Funktion muss eine sein, die sich mit den Mitteln der synaptischen Plastizität nicht verwirklichen lässt. Sonst hätte das Verfahren dem Selektionsdruck im Zuge der menschlichen Evolution wohl nicht standgehalten. Auffallend ist, dass die neuen Nervenzellen an einer Engstelle vorkommen, einem Flaschenhals, an dem sehr viel Information durch ein sehr kleines Netzwerk kanalisiert werden muss, damit sie dauerhaft gelernt werden kann. An einer solchen Engstelle könnten einige hundert neue Nervenzellen durchaus eine funktionelle Bedeutung erlangen, wie sie die gleiche Zahl unter Milliarden ausgereiften Nervenzellen in der Hirnrinde mit ihrer viel diffuseren Verschaltung nie erlangen könnte.
Stabil wie möglich, anpassungsfähig wie nötig
Der Hippocampus muss sich einerseits schnell an alle neuen Situationen anpassen, denen ein Individuum begegnet. Andererseits soll einmal Gelerntes auch stabil repräsentiert werden. Das ist schwer vereinbar, und in diesem Stabilitäts-Plastizitäts-Dilemma, wie die Netzwerktheoretiker das nennen, muss dauernd ein Kompromiss gefunden werden. So stabil wie möglich und dabei so anpassungsfähig wie nötig soll das Netzwerk arbeiten. Die Hypothese, die Laurenz Wiskott von der Humboldt-Universität in Berlin und ich vorgeschlagen haben, lautet, dass neue Nervenzellen im Hippocampus es ermöglichen, dieses Dilemma am besten zu lösen. Die neuen Nervenzellen gestatten lebenslang Anpassungsvorgänge, aber je mehr wir schon früher erlebt haben, desto weniger zusätzliche Anpassung ist im Laufe der Zeit vonnöten.
Bei Mäusen haben wir gezeigt, dass die adulte Neurogenese durch komplexe Erfahrungen und Bewegung stimuliert wird. Normalerweise sinkt die Neubildung von Nervenzellen früh (mutmaßlich in der Jugend) auf ein niedriges Niveau. Wenn eine alte Maus erstmals in ihrem Leben einer neuen Umgebung ausgesetzt wird, werden diese Reserven für die Neurogenese bis aufs Letzte aktiviert.
Bewegung bringt auch geistige Stimulation
Die Bewegung der Maus ist ihr täglicher Kampf ums Futter. In der Wildnis signalisiert körperliche Aktivität dem Gehirn also, dass viele Situationen mit potentiellem Lernbedarf auftreten können. Vor dem Aufkommen des Fernsehens galt das für Menschen auch: Wer etwas erleben wollte, musste sich in Bewegung setzen. Dieses evolutionäre Argument ist unsere Erklärung für die ansonsten ja etwas verblüffende Tatsache, dass Bewegung allein schon für die Steigerung der adulten Neurogenese ausreichend sein soll. So ganz ist sie das nämlich auch nicht. Denn der Effekt nutzt sich ab.
Körperliche Bewegung über viele Monate hinweg, das zeigen die Mäuseversuche, vermindert aber den ansonsten mit dem Alter zu beobachtenden Abfall der Stammzellaktivität und erhält das Potential für Neurogenese auf einem jugendlicheren Niveau. Wenn adäquate intellektuelle Stimuli fehlen (die ein Käfiglaufrad jedenfalls nicht bietet), werden aus diesen aktivierten Stammzellen keine neuen Nervenzellen. Das Potential wird also nicht genutzt. Man braucht mutmaßlich beides. Der Fernsehschirm vor dem Laufband im Fitness-Studio geht in die richtige Richtung, verkennt aber die Notwendigkeit der Aktivität auf kognitiver Seite.
Das Hirn auf Empfang schalten
Bewegung könnte also auch deshalb gut für das Gehirn sein, weil sie der physiologische Stimulus ist, den Hippocampus „auf Empfang“ und auf Plastizität durch die Nervenzell-Neubildung einzustellen. Ein lebenslang anpassungsfähiger Hippocampus hält eine wichtige Teilfunktion des Gehirns aufrecht, auch wenn möglicherweise andernorts im Gehirn die Neurodegeneration schon weiter vorangeschritten ist. Die neuen Nervenzellen sind gewissermaßen so etwas wie eine neurogene Reserve.
Der beschriebene Mechanismus könnte auch helfen, zu erklären, warum viel erfahren und gelernt zu haben einen gewissen Schutz vor Demenz darstellen kann. Da diese Reserven aber auch nur ein Faktor unter vielen sind, die über den Ausbruch einer Demenz entscheiden, darf man diese Erkenntnisse nicht dazu verwenden, dem Patienten nun noch die rückwirkende Verantwortung für sein Schicksal aufzubürden („Hättest du dich mehr bewegt“). Demenzen bleiben multifaktoriell und sind auch heute leider weitgehend immer noch Schicksal. Bewegung und geistige Aktivität bieten aber immerhin die Möglichkeit, an einer der wenigen Schrauben mit bekannter Verbindung zur Maschinerie dahinter selbst etwas zu drehen.
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